US-Präsident Joe Biden eröffnete am Montag einen Parteitag, bei dem eigentlich er zum Kandidaten gekürt werden hätte sollen. Stattdessen gab er das Staffelholz weiter an Vizepräsidentin Kamala Harris. Über eine Nacht, in der die Demokraten hörbar aufatmeten.
Über dem United Center in Chicago ging am Montagabend ein „Blue Moon“ auf, ein großer Vollmond. Besser hätten sich die Demokraten ihren ersten Tag am Bundeskongress nicht ausmalen können: Die Halle war bis auf den letzten Platz gefüllt, und als Kamala Harris um 20 Uhr überraschend zu Musik von Popstar Beyoncé auf die Bühne kam, brach das Publikum in ohrenbetäubenden Jubel aus.
Es ist nicht der Bundesparteitag, auf den sich die Partei vor einem Monat noch vorbereitet hatte. Präsident Joe Biden stand da als Spitzenkandidat auf dem Ticket der Demokraten. Angeschlagen von der desaströsen Fernsehdebatte Ende Juni gegen seinen republikanischen Herausforderer, Donald Trump, gab der 81-Jährige ein Bild ab, das alles andere als nach Siegessicherheit aussah. Der Rest ist freilich Geschichte. Biden zog sich zurück, Harris wurde nominiert.
Am Montagabend Ortszeit, als letzter Redner (in Österreich war es bereits 5 Uhr Dienstagfrüh), ging der Präsident ans Podium im United Center – nicht mehr als Kandidat, sondern eben, um seinen Hut zu nehmen. Diese Nacht in Chicago gehörte ihm – und dem Abschied von einer Ära, die für die Demokraten nach dreieinhalb Jahren gar nicht mehr so glorreich aussieht, auch, wenn man dem Amtsinhaber am Montag Rosen streute. Statt der Rede, die er seit Monaten geplant hatte, hielt er eine Ansprache zur Staffelübergabe – an eine neue demokratische Spitzenkandidatin, seine Vizepräsidentin, Harris.
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„Ein amerikanischer Held“
Er trat mit einem Taschentuch auf die Bühne. Seine Tochter Ashley Biden hatte ihn angekündigt, und der Moment überwältigte den US-Präsidenten. Vier Minuten lang gab es Standing Ovations für ihn, ehe er mit seiner Rede beginnen konnte. „We love Joe“, „Thank you, Joe“, rief das Publikum in ohrenbetäubender Lautstärke.
„Ich stehe heute Abend, an diesem August-Abend, vor Ihnen, um zu sagen: Die Demokratie hat gesiegt, und jetzt muss die Demokratie bewahrt werden.“ Es ist ein bewegender Moment für viele im Publikum, die in Biden – dem Sieger der Wahl 2020 – tatsächlich den Retter der US-Demokratie sehen. Und nun als deren Beschützer, mit seinem Rückzug und seiner Unterstützung von Harris. „Er ist ein Patriot, ein amerikanischer Held“, sagt eine Frau mit blinkendem Cowboyhut nach der Rede. „Es war die Ehre meines Lebens, euer Präsident zu sein“, erklärte Biden: „Ich liebe meinen Job, aber ich liebe mein Land mehr.“
„Trump ist ein Verlierer“
Biden betonte seinen Erfolg in der Wahl gegen Trump. 80 Millionen Menschen hätten für ihn gestimmt, „mehr als je zuvor“, und dann listete er die Gesetzgebungsprojekte seiner tatsächlich recht umtriebigen Regierung auf, zeichnete ein Bild von sich als Mann der Arbeiterschaft, des Mittelstandes. Der Saal war auf den Beinen. „Trump spricht darüber, dass die USA verlieren. Er ist der Verlierer. Wir wollen lieber eine Staatsanwältin im Weißen Haus als einen verurteilten Straftäter.“
Er kündigte an, noch vieles in seinen verbleibenden fünf Monaten im Oval Office umsetzen zu wollen: etwa einen Waffenstillstand im Gaza-Krieg. „America, America, I gave my best for you“, „Amerika, ich habe mein Bestes für dich gegeben“: Biden zitierte zum Schluss die US-Hymne. „Ich bin heute optimistischer, was die Zukunft unseres Landes angeht, als damals, als ich ein 29-jähriger Senator war.“ Biden versuchte den Spagat zwischen eigenem Stolz – und einer geordneten Übergabe an die neue Kandidatin, die sich an dem Abend bis auf ein kurzes Hallo zurückhielt, und unter tosendem Jubel Biden und dessen Familie am Ende auf der Bühne umarmte.
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Bidens flogen in den Urlaub
Nur wenige Stunden blieb Biden mit seiner Familie in Chicago. Die Air Force One flog ihn noch in der Nacht auf Dienstag nach Kalifornien, wo er mit First Lady Jill Biden einen zweiwöchigen Urlaub verbringen will – die Bühne soll in der Zeit seiner Wunsch-Nachfolgerin, Harris, gehören.
Jill Biden trat am Montag selbst nur kurz auf die Bühne, in einem glänzenden blauen Kleid – und strahlte. Sie habe sich frisch in ihren Mann verliebt, als er sich zu seinem Rückzug entschieden habe. „Er ist ein Mann der Überzeugung“, sagte Biden. Und richtete liebevolle Worte an Harris, die sie über ihren verstorbenen Stiefsohn, Beau Biden, kennengelernt habe: „Kamala und Tim, ihr werdet gewinnen. Ihr seid eine Inspiration für eine neue Generation.“ Bidens Tochter, Ashley Biden, eine Sozialarbeiterin, ernannte ihren Vater anschließend „zum wichtigsten Politiker in der Geschichte“: „Er weiß, dass Kamala Harris Trump wieder schlagen wird.“
„Beste Entscheidung, die er je getroffen hat“
Es war ein seltsamer Moment für Harris und ihr Team. Um die Wahl zu gewinnen, muss sie eigentlich auch gegen Biden antreten, gegen eine Präsidentschaft, die zutiefst unbeliebt war bei den US-Amerikanern – und eine Präsidentschaft, deren Teil sie war. Als Vizepräsidentin.
Jim Clyburn, Abgeordneter aus South Carolina und einer jener Männer, der Biden 2020 zum Kandidaten machte, versuchte den Spagat. Bidens Politik sei herausragend gewesen, doch dass er sich aus dem Wahlkampf zurückgezogen habe, sei die „beste Entscheidung, die er je getroffen“ habe.
„Danke, Joe“, sagte Senator Raphael Warnock aus Georgia: „Aber das ist nicht bloß Joe Bidens Amerika, es ist Kamala Harris‘ Amerika.“ Der Kurs geht weg vom aktuellen Präsidenten, der noch fünf Monate im Amt sein wird – und dessen Gesicht die ehemalige Chefin des Repräsentantenhauses, Nancy Pelosi, schon in den Mount Rushmore gemeißelt sehen möchte, wie sie vergangene Woche meinte.
Tatsächlich sah man auch am Montag in Chicago wieder das Alter des Präsidenten. Seine Rede war zwar emotional und mitreißend, doch er nuschelte manchmal so stark, dass er kaum zu verstehen war. Darüber müssen sich die demokratischen Wahlkämpfer nun keine Sorgen mehr machen; und selbst Biden konnte darüber scherzen, als er einen Versprecher ablieferte.
Jubel für Hillary Clinton
Harris ist schon die dritte Kandidatin, die die Demokraten gegen Trump in einen Präsidentschaftswahlkampf schicken. Hillary Rodham Clinton hatte es 2016 probiert. Auch sie sprach am Montagabend in Chicago, auch sie, wie Biden, nun eine Figur aus der Vergangenheit. Sie wollte die erste Präsidentin der USA werden – und scheiterte an Trump.
Clintons Rede elektrifizierte den Saal. Der Jubel war so laut, dass ihre Worte teils im Applaus untergingen. Sie verglich Trumps Angriffe auf Harris‘ Aussehen, ihre Rhetorik, ihr Lachen, mit ihrer eigenen Erfahrung. Es sei an der Zeit, Geschichte zu schreiben. „Trump wird die Stärke der Frauen 2024 zu spüren bekommen“, ergänzte Biden. Überhaupt: Harris werde eine der besten Präsidenten der USA abgeben, „wie so viele Vizepräsidenten vor ihr“, scherzte Biden, der selbst Barack Obamas Vizepräsident gewesen war.
Euphorie statt Großprotest
Nun soll es also Harris versuchen. „Wir können heute alle ein bisschen besser schlafen“, sagte ein demokratischer Berater am Montagabend, „jetzt, wo Biden abgehakt ist“. Der Bundesparteitag kann nun, nach den Auftritten Bidens und Clintons, ohne Erinnerungen an die alte Garde auskommen. Und der Stimmung half es auch, dass die geplante Großdemonstration gegen Harris und ihren Vizepräsidentschaftskandidaten, Tim Walz, am Montag wesentlich kleiner ausfiel als angekündigt; sie war von propalästinensischen Aktivisten angeführt worden. Stattdessen waren die Straßen rund um das Konferenzzentrum Chicagos voll mit Menschen, die ihre Euphorie kaum verbergen konnten. Sie machten Selfies, umarmten sich, und warteten auf Harris wie auf einen Superstar.
Die Demokratische Partei kann sich nun auf das konzentrieren, was vor einem Monat niemand dort für möglich gehalten hatte: einen Wahlkampf voller Aufregung; einen Wahlkampf, wo selbst ein amerikanischer Held sich auf die politische Bühne wagt. Trainer Steve Kerr, der gerade das US-Basketball-Männerteam zu Gold bei den Olympischen Spielen in Paris geführt hatte, appellierte an das Land, für Harris zu stimmen: „Stellen wir uns nur vor, was wir erreichen können, wenn 330 Millionen Amerikaner für dasselbe Team spielen.“
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